Volkskrankheit: ADHS hat Probleme erwachsen zu werden

Psychiater Priv.-Doz. Dr. Bernhard Kis, Universitätsmedizin Göttingen: „Medizinische Unterversorgung heranwachsender ADHS-Patienten wesentlich durch Kommunikationsprobleme zwischen Arztgruppen bedingt.“
(Berlin). Die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) ist in Deutschland sehr häufig. Daten des Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) zeigten schon vor 10 Jahren, dass bei mindestens 4,8 % der Kinder und Jugendlichen ADHS diagnostiziert wird, weitere 4,9% können als Verdachtsfälle gelten [1]. Da auch bis zu 5% der Erwachsenen unter der Erkrankung leiden [2], wird ADHS gelegentlich als „Volkskrankheit“ bezeichnet. Ein ungeklärtes Phänomen ist jedoch, dass sehr viele heranwachsende ADHS-Betroffene als Erwachsene plötzlich keine ADHS mehr zu haben scheinen, wie Versorgungsdaten von Krankenkassen zeigen [3]. PD Dr. Bernhard Kis, Universitätsmedizin Göttingen, erläuterte bei einem Symposium im Rahmen des diesjährigen Jahreskongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde in Berlin [4] diese Versorgungslücke und stellte eine Expertengruppe vor, die sich seit 2017 schwerpunktmäßig mit den Transitionsproblemen von heranwachsenden ADHS-Patienten beim Übergang ins Erwachsenenalter widmet („Expertenrat ADHS“ [5]). Das Symposium „Transition ADHS – who cares?!“ zeigte in den Stellungnahmen der vortragenden Kinder- und Jugendpsychiater, Psychiater, Haus- und Allgemeinärzte sowie ADHS-Patienten in der Transition ein großes Spektrum an Einschätzungen und widersprüchlichen Meinungen zum Beispiel zu den möglichen Ursachen und Lösungen des Versorgungsdefizits.

Trotz aller konträren Meinungen ist aber klar, so erläuterte Kis, dass die Transitions-Versorgungslücke ganz wesentlich ein Kommunikationsproblem zwischen den Arztgruppen ist, die ADHS-Patienten behandeln. Um dieses zu verringern, hat der Expertenrat ADHS zwei Informationsbögen entwickelt. Sie werden jeweils vom Vorbehandler mit zur Weiterbehandlung wichtigen Informationen ausgefüllt und zur reibungslosen Überleitung adoleszenter ADHS-Patienten an den Weiterbehandler übermittelt („Transitionsbögen“, siehe Website der Gruppe [5]). Andere Ursachen für Versorgungsdefizite während der Transition sind eine unzureichende Fort- und Weiterbildung zu ADHS bei potentiellen Weiterbehandlern, mangelhafte Transitions-Strukturen oder das Fehlen notwendiger Therapieangebote (z. B. regelhaft durchgeführtes Coaching). Kis äußerte jedoch die Hoffnung, dass zukünftig nicht nur formale Grundlagen zur ADHS-Behandlung optimiert werden (wie z. B. die gerade publizierte neue ADHS-S3 Leitlinie zeigt [6]), sondern dass sich auch bei der praktischen Umsetzung mehr tun wird und sich so die beschriebenen Versorgungslücken schließen lassen.

Viele ADHS-Patienten haben mit 18 ihre Behandlung bereits abgebrochen

Auf erhebliche Wissensdefizite, wie Transition gut gelingen kann, machte der Psychiater Dr. Daniel Alvarez-Fischer, Universität zu Lübeck, aufmerksam. So sei bemerkenswert, dass viele ADHS Patienten die Behandlung zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr beenden würden und gar nicht mehr beim Kinder- und Jugendpsychiater in Behandlung sind, wenn sie 18 werden. Die Gründe für den – vorzeitigen – Abbruch der Behandlung seien wissenschaftlich jedoch nicht eindeutig belegt. Eine Studie aus jüngster Zeit stelle immerhin fest, dass es möglicherweise – bei noch fehlenden Selbstmanagementfähigkeiten – oftmals zu einem zu abrupten Übergang ins Erwachsenenalter komme. Auch falsche Krankheits-Vorstellungen, subjektiv erhöhter Erwartungsdruck hinsichtlich Schule oder Ausbildungsplatz, Stigmatisierungen oder auch Nebenwirkungen der Medikation führten häufig zu einem freiwilligen Therapieabbruch. Andere Gründe seien der Gruppendruck, vor allem bzgl. der Medikation, und eine fehlende soziale Unterstützung [7]. In Hinsicht auf das oft zu beobachtende Defizit bei notwendigen Fertigkeiten von ADHS-Patienten, stelle sich die Frage, wann und durch wen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen so unterstützt werden können, dass die Transition besser gelingt. Auch hierbei seien geeignete Studien notwendig, um die Wissenslücken zu schließen. Ein Modell für den Übergang bei chronischen, nicht psychischen Erkrankungen, z. B. Diabetes mellitus Typ I oder Epilepsie, stellt beispielsweise das „Berliner TransitionsProgramm (BTP)“ dar, bei dem persönliche Fallmanager („Coaches“) mit den Patienten zusammen die vielfältigen Probleme der Transition zu bewältigen versuchen [8].

Transition nur gemeinsam erfolgreich

Der Psychiater Dr. Christian Konkol, Bad Salzuflen, sieht hingegen eine gelungene Transition in Kooperation als einzig angemessenen, gangbaren Weg bei der Versorgung von heranwachsenden ADHS-Patienten. Wenn da nicht wesentliche Probleme wären, die eine Transition behindern: Beispielsweise die Tatsache, dass ADHS-Patienten oftmals kaum Termine bei Psychiatern bekommen. Und diese dann nicht die notwendige Zeit haben, auf die individuellen Probleme so einzugehen, wie es ADHS-Patienten von dem intensiven, verständnisvollen und vertrauten Umgang mit ihrem Kinder- und Jugendpsychiater her kennen. Zudem fehle vielen Psychiatern schlichtweg die notwendige Qualifikation, um ADHS zu diagnostizieren und zu behandeln. Daneben gibt es erkrankungsassoziierte Probleme bei den Patienten, z. B. ein Mangel an notwendiger Reife, um sich in die Abläufe der Erwachsenenpsychiatrie angemessen einfügen zu können. Deshalb, so betonte auch Konkol, ist Coaching ein wichtiges Element bei der Versorgung von ADHS-Patienten. Dies zeige zudem den grundsätzlich bedeutsamen Weg im Umgang mit erwachsen werdenden ADHS-Patienten auf: Nämlich neben der medizinisch-medikamentösen Therapie eine psychosoziale Begleitung der Patienten in das Erwachsenenalter hinein zu garantieren. Allerdings seien solche Modelle wie das Berliner Transitionsmodell flächendeckend in absehbarer Zeit kaum umsetzbar. Umso wichtiger für das Gelingen von Transition sei die Zusammenarbeit von Kinder- und Jugendpsychiatern mit den nachbehandelnden Psychiatern

Viele ADHS-Patienten finden keine weiterbehandelnden Psychiater

Ohne Frage, so bestätigte der Kinder- und Jugendmediziner Dr. Jürgen Fleischmann, Sinzig, fallen zahlreiche ADHS-Patienten schon in der Pubertät aus der Versorgung, was die beteiligten Fachgruppen auch thematisieren. Bei der Transitionsproblematik gehe es aber um jene Patienten, die tatsächlich bis zum 18. Lebensjahr bei Pädiatern oder bis zum 21. Lebensjahr bei Kinder- und Jugendpsychiatern geblieben sind, die von deren Therapie profitiert haben und für die dann kaum jemand da ist, der sie weiterbehandelt. Für dieses brennende Versorgungsproblem der fehlenden Weiterbehandlung müssten dringend Lösungen geschaffen werden. Es ginge nicht an, dass zahlreiche erwachsen gewordene Patienten keinen Weiterbehandler finden und deshalb in einer für Beruf bzw. Studium entscheidenden Lebensphase scheitern. Hier ist es eine Frage der ärztlichen Ethik, dass die Kinder- und Jugendbehandler diese Patienten weiter betreuen bis ein Arzt für Erwachsene sie übernimmt. Genau dies berichtete bei dem Symposium auch ein 21-jähriger ADHS-Patient, der – weil er lange keinen Weiterbehandler finden konnte – seinen bisherigen Kinder- und Jugendpsychiater hunderte Kilometer entfernt um die notwendige Weiterbehandlung bitten musste. Selbst in einer Großstadt wie Berlin dann einen behandlungsbereiten Psychiater zu finden, sei einer Odyssee gleichgekommen.

Psychiater müssen die Existenz von ADHS anerkennen

Auch der Kinder- und Jugendpsychiater Prof. Dr. Peter Greven, Berlin, bestätigte im wesentlichen diese Transitions-Versorgungslücke und ergänzte, dass viele der ADHS-Patienten, die mit 12 oder 13 Jahren ihre Therapie abbrechen über kurz oder lang wieder nach einer Weiterbehandlung suchen. Einfach, weil dann mit 22 oder 23 Jahren Probleme brennen würden, die nur mit einer angemessenen Behandlung zu lösen sind. Und auch diese Patienten hätten das große Problem, weiterbehandelnde Psychiater zu finden. Aus Grevens Sicht sind mehr niedergelassene Psychiater notwendig, die bereit sind, sich mit dem Krankheitsbild auseinandersetzen, die anerkennen, dass es ADHS überhaupt gibt und die deshalb motiviert sind, ADHS-Patienten weiter zu behandeln. Die Zusammenarbeit mit den vergleichsweise wenigen, proaktiv eingestellten Fachärzten in Berlin, so berichtete Greven, funktioniert hervorragend und die Transition von ADHS-Patienten verläuft meist gut. Aber es seien insgesamt eben viel zu wenige Erwachsenenbehandler. Greven betonte wie andere Referenten auch, dass die Behandlung von motivierten ADHS-Patienten eine ärztlich sehr befriedigende Arbeit ist, da man oft deutlich mehr Erfolge hat als bei anderen psychiatrischen Störungsbildern.

Keine Lösung ohne Haus- und Allgemeinärzte möglich

Der hausärztlich tätige Internist Dr. Hans-Heiner Decker, Arnsberg, legte in seinem Diskussionsbeitrag den Finger in die Wunde der ADHS-Behandlung: Bei einer Häufigkeit von etwa 4% in der Bevölkerung sei ADHS eine Volkskrankheit. Und wenn sich von rund 10.000 Fachärzten bei dem DGPPN-Kongress nur eine Handvoll überhaupt für das Problem ADHS-Transition interessiere, sei die Weiterbehandlung nur zu garantieren, wenn andere Fachärzte mit einbezogen werden – allen voran Haus- und Allgemeinärzte. Die wenigen Hausärzte, deren Schwerpunkt bereits jetzt die Behandlung von ADHS ist, zeigten sehr gut, dass dies möglich und eine wirksame Lösung des Problems ist (wenn denn genug Haus- und Allgemeinärzte motiviert werden können). Greven verwies ergänzend auf Staaten wie Kanada, wo Hausärzte proaktiv und von den Universitäten geschult in die Versorgung von ADHS-Patienten mit einbezogen werden. Der Expertenrat ADHS schätze die Sachlage ähnlich ein und habe auch ein mit ADHS sehr erfahrenes hausärztliches Mitglied.

Autor
• Rainer H. Bubenzer, Berlin, 20. Dezember 2018.
Bildnachweis
• Bernhard Kis, 2018. Kostenfreier Abdruck nur bei redaktioneller Nutzung und im Zusammenhang mit dem Bericht „Volkskrankheit: ADHS hat Probleme erwachsen zu werden“ sowie bei Nennung des Fotografen.
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Quellen
[1] Schlack R, Hölling H, Kurth BM, Huss M: Die Prävalenz der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz. 2007;50:827-35 (Kurzfassung).
[2] de Zwaan M, Gruss B, Müller A, Graap H, Martin A, Glaesmer H, Hilbert A, Philipsen A: The estimated prevalence and correlates of adult ADHD in a German community sample. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci. 2012 Feb;262(1):79-86 (Kurzfassung).
[3] Bachmann CJ, Philipsen A, Hoffmann F: ADHS in Deutschland: Trends in Diagnose und medikamentöser Therapie. Bundesweite Auswertung von Krankenkassendaten der Jahre 2009–2014 zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Deutsches Ärzteblatt. 2017 Mar 3;114(9):141-8 (Volltext).
[4] Symposium „Transition ADHS – who cares?!“. Vorsitz: Bernhard Kis, Göttingen, Jürgen Fleischmann, Sinzig. Im Rahmen des Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 28.11.-1.12.2018 (www.dgppnkongress.de).
[5] Expertenrat ADHS, gegründet im April 2017 (weitere Infos: www.expertenrat-adhs.de).
[6] Leitlinie ADHS bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Registrierungsnummer: 028-045, Entwicklungsstufe: S3. Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V. (DGSPJ), Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) ,Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN) (Volltext PDF (abgelaufen)).
[7] Schaefer MR, Rawlinson AR, Wagoner ST, Shapiro SK, Kavookjian J, Gray WN: Adherence to Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder Medication During the Transition to College. J Adolesc Health. 2017 Jun;60(6):706-713 (Kurzfassung).
[8] Jana Findorff, Silvia Müther, Arpad Moers, Hans-Dieter Nolting, Walter Burger: Das Berliner TransitionsProgramm. Sektorübergreifendes Strukturprogramm zur Transition in die Erwachsenenmedizin. de Gruyter, Berlin, 2016 (Open access-Volltexte PDF).

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